Im ALKOHOL-Dunst
Für mich sind es die Augen, diese glänzenden und zugleich trüben Augen, Farbton irgendwas zwischen Grau und Gelb. Es braucht nur einen einzigen Blick und ich weiß, wie die Dinge stehen: Dieser Mensch hat nicht nur heute einen über den Durst getrunken. Er ist, wie mein Papa, seit Jahren Alkoholiker.
Für andere Angehörige sind es andere Dinge, an denen sie die Trinkerin, den Trinker in der Familie ausmachen:
- Jeden Abend mindestens ein Feierabendbier. Oder zwei. Oder mehr.
- Nach dem Zahltag lange Abende in der Kneipe, danach Geldsorgen bis zum nächsten Ersten.
- Auffällige rote Stellen im Gesicht, an den Händen oder Armen, gegen die keine Medizin hilft.
- Zwei Faustregeln: 1) Jedes Wochenende Party. 2) Kannst du dich erinnern, warst du nicht dabei.
- Zittrige Hände nach ausgiebigem Trinken oder bei Entzugserscheinungen.
- Kein Glas Mineralwasser ohne Sekt, keine Tasse Tee ohne Rum.
- Ich und ein Alkoholproblem? Tickst du nicht mehr ganz richtig?
- Dauerstress mit dem Arbeitgeber wegen steigender Fehlerquote und permanenter Unpünktlichkeit.
- Die Anzahl der leeren Schnapsflaschen im Altglas.
- ...
Warum die Punkte so unterschiedlich sind und die Liste so lang und trotzdem nicht vollständig ist, erklärt ein Blick in die ICD-10.
Dort wird die Sucht nach Alkohol dem Abhängigkeitssyndrom zugeordnet. Zu den insgesamt sechs Diagnosekriterien gehören unter anderem Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen, gedankliche Fokussierung auf den Alkohol und anhaltender Konsum trotz (erster) negativer Folgen für Gesundheit, Beziehung, Arbeitsleben, Finanzen. Für eine Alkoholabhängigkeit muss nicht jedes Kriterium vorliegen. Aber jedes Kriterium kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und für Außenstehende mal mehr, mal weniger offensichtlich sein.
Dazu kommt, dass die Wissenschaft mehrere Trinkertypen unterscheidet. Ich hatte mal einen Arbeitskollegen, der sich jeden Abend (!) auf sein Sofa und zwei Bier freute – laut Definition eindeutig abhängig und das wusste er auch. In einem anderen Job lernte ich eine Kollegin kennen, die sich unter der Woche verhielt wie eine ältere, sittsame Dame, sich aber jedes Wochenende (!) zulaufen ließ bis zum Filmriss. Das Corona-Jahr 2020 war der Horror für sie, weil: „Wenn ich besoffen bin, kann ich mein langweiliges Leben wenigstens für einen Abend vergessen. Aber jetzt ist alles nur noch langweilig und ich fühle mich, als ob ich mehr tot als lebendig bin.“ Mein Papa dagegen war Spiegeltrinker. Schweigsam und lethargisch in nüchternem Zustand, redselig oder streitlustig, wenn er sturzbesoffen war. Ich mochte keinen dieser beiden Charaktere.
Bleiben wir noch für einen Moment bei den Fakten:
- In Deutschland wird überdurchschnittlich viel Alkohol konsumiert. Rund 1,6 Millionen Menschen gelten als abhängig. Weitere sieben Millionen Männer und Frauen trinken so viel, dass sie dadurch ihre Gesundheit gefährden oder Gefahr laufen, ebenfalls süchtig zu werden.
- Die Wartezeiten für einen Platz in einer Entzugsklinik sind lang. Doch wer eines der Betten bekommt, hat den Absprung noch lange nicht geschafft. Rückfälle gehören zum Krankheitsbild, die Quote liegt bei 70 bis 90 Prozent.
- Das übermäßige Trinken oft über Jahre hinweg fordert einen sehr hohen Preis, und zwar in Form von Lebenszeit: Alkoholiker sterben im Schnitt 20 Jahre früher. Auch mein Papa wurde nicht alt: Mit 58 Jahren erlitt er einen Schlaganfall und starb wenige Tage später.
Und nun zurück zu dem Problem hinter den Fakten. Längst nicht alle, aber die allermeisten der 1,6 Millionen Alkoholiker in Deutschland haben Angehörige. Diese Angehörigen machen sich Sorgen, bieten Hilfe an, sind Ziel von Aggressionen, halten Stimmungsschwankungen und sozialen Rückzug aus, leihen Geld, drängen auf einen Entzug, entwickeln sogenannte Co-Abhängigkeiten.
Ich habe mal einen ehemaligen Polizisten interviewt, der schon in jungen Jahren gern und viel getrunken hatte. Nach seiner Scheidung stürzte er ab. Schon vor dem Frühstück brauchte er den ersten Schluck. Seine Kollegen wussten davon und deckten ihn. Sie übernahmen seine Fahrdienste, schirmten ihn vor dem Chef ab und erfanden Ausreden für sein aggressives Verhalten, das er auch im Büro immer öfter zeigte.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wie bei allen Suchterkrankungen ist Schweigen für Angehörige der falsche Weg. Die Ruhe ist trügerisch und an sich schon eine Belastung für die Seele. Besser: Allen Mut zusammennehmen, in einem ruhigen Moment das Gespräch suchen, Unterstützung anbieten und trotzdem für die Zukunft Grenzen setzen. Klare Ansagen, keine leeren Versprechungen mehr, Konsequenzen aufzeigen. Nur dann kann sich etwas ändern. Wenn schon nicht der Trinkende, dann die Situation für sein Umfeld.
Dein Weg, dein Leben. Wie entscheidest du dich?