Trauern, Aber richtig!
Die Monate nach dem Tod meines großen Bruders sind mir als sehr leise und beschwert in Erinnerung geblieben.
Den Großteil des Tages war ich den Tränen nahe: Warum er, warum so früh? In der Nacht wurden all die verzweifelten, all die wunderbaren und wertvollen Momente, die ich mit diesem Sterbenden erlebt hatte, lebendig. Unser Gespräch über den Tod, bemüht um Sachlichkeit trotz weinender Herzen. Die letzte Lasagne, die wegen der Chemo-Tabletten nicht mehr schmeckte. Der stumme Abschied von seinen Freunden. Sie alle waren ein letztes Mal ans Krankenbett gekommen, ein letzter Handschlag, ein letztes liebes Wort. Zwei Tage später war er tot.
Trotz aller inneren Aufruhr – die Welt kennt keine Pause. Familie, Job, Freunde, Ehrenamt, ich hatte Verpflichtungen, wurde gebrauch. Rückblickend war das anstrengend, aber gut. Denn auch wenn mir nach allem anderen als Alltag war: In der ersten Zeit MUSSTE ich irgendwie funktionieren, bald WOLLTE ich tatsächlich wieder zurück ins Leben. Mit allem, was dazu gehört.
Inzwischen sind mehr als 10 Jahre vergangen. Die Lücke, die mein Bruder hinterlassen hat, wird sich nie schließen. Ich vermisse ihn oft schmerzlich. Aber die Erinnerungen verblassen, die Trauer auch.Was ich trotzdem nie vergessen werde: Wie sehr mich manche Kommentare aus meinem Umfeld, persönlich abgeliefert oder durch Dritte überliefert, in dieser schweren Zeit getroffen haben. Was mir unter anderem vorgeworfen wurde:
Nicht richtig oder viel zu weng zu trauern, weil ich nicht jedes Mal, wenn ich auf Nachfrage erzählte, dass mein Bruder gestorben ist, in Tränen ausbrach, sondern tröstende Worte für andere fand.
Zu viel zu weinen, weil ich doch dankbar sein sollte, dass mein Bruder 30 Jahre leben durfte. Immerhin! Da gebe es andere Beispiele, man denke nur an all die Kindergrabfelder auf den Friedhöfen.
Erinnerungen nicht bewahren zu wollen. Du, sag mal, warum hast du eigentlich in der ganzen Wohnung kein einziges Foto von deinem Bruder hängen?
Damals verletzte mich jedes einzelne Wort. Als meine Mutter ein paar Jahre später viel zu früh starb, war ich stärker. Ich erklärte mich nicht mehr. Ich verteidigte mich nicht mehr. Ja, ich war getroffen von den unüberlegten Kommentaren, die ich auch damals zu hören bekam. Aber ich hatte meinen Weg gefunden, damit umzugehen - ich blieb ganz bei mir. Ich machte, was mir gut tat und erlaubte mir Genuss ebenso wie stille Tränen.
Denn im Leben, und das habe ich damals gelernt, kann und darf nicht nur vieles gleichzeitig und nebeneinander geschehen - es geschieht einfach. Auch tieftraurige Menschen können von Herzen lachen, auf Reisen gehen oder sich neu verlieben. Auch Menschen, die den Verlust eines geliebten Angehörigen scheinbar schon längst verarbeitet haben, können Zeit ihres Lebens für einen kurzen Moment traurig werden, wenn es Lasagne zu essen gibt.
Beim Trauern kann man meiner Meinung nach nur eines falsch machen, und das ist, dem Bild gerecht werden zu wollen, das die Gesellschaft von Trauernden hat. Trauer folgt keinem vorgegeben Schema. Trauer ist ein Gefühl. Du allein entscheidest, was es dir leichter macht, mit dem Verlust eines geliebten Menschen zurecht zu kommen.