DEMENZ: WENN EIN LEBEN VERBLASST
Knapp zwei Millionen Männer und Frauen in Deutschland sind dement. Oft vergehen Jahre bis zur Diagnose, weil die Betroffenen zu Meistern werden im Verbergen ihrer Defizite – vor ihrem engeren Umfeld und vor allem vor sich selbst.
Manchmal beginnt es mit Socken im Kühlschrank. Manchmal mit schlechter Laune immer dann, wenn sich Besuch angekündigt hat. Aber oft ist da einfach nur Stille. Stummer Ärger. Überforderung. Ist diese übermächtige Angst vor dem Nichtmehrwissen nur ein Hirngespinst oder berechtigt? Die Erinnerungen an ein bewegtes Leben werden grau und grauer. Gleichzeitig blitzen immer wieder diese bitteren Momente der Erkenntnis auf: dass man Hilfe braucht, immer mehr, immer öfter – und sich am Ende trotz aller Gegenwehr selbst verlieren wird.
Außenstehende können nur erahnen, wie es sich für Betroffene anfühlen muss, wenn der Prozess des Vergessens einsetzt und der Alltag zunehmend mehr Kraft kostet:
Schon kleinste Veränderungen im gewohnten Tageslauf verursachen Panik, beispielsweise, wenn der Hausarzt Urlaub hat und ein vertretender Kollege zum Hausbesuch kommt.
Vertraute Menschen erscheinen plötzlich fremd, Namen entfallen, Personen werden verkannt.
Gegenstände, die man Zeit seines Lebens benutzt hat und Wege, die man schon hunderte Male gegangen ist, werden zu Fragezeichen.
Der Ärger über das eigene Unvermögen entlädt sich an Menschen, die eigentlich nur helfen wollen.
Weil Routinen und das gewohnte Umfeld ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, reduzieren sich soziale Kontakte und Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände auf ein Minimum.
Zwischen 30 und 50 Prozent der Demenzerkrankten entwickeln zudem depressive Symptome.
Für Angehörige ist gerade diese Anfangszeit wie permanentes Jonglieren mit rohen Eiern. Sollen, dürfen die offensichtlichen Veränderungen im Verhalten des Opas, der Ehefrau, des Nachbarn oder der guten Freundin angesprochen werden? Soll man, darf man Aufgaben stillschweigend übernehmen in der guten Absicht, dem Erkrankten den Alltag zu erleichtern? Wie findet man einen Weg, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten? Wie gelingt es, eine unterstützende Bezugsperson zu bleiben und sich trotzdem Freiräume für eigene Bedürfnisse zu erhalten?
Aus vielen Gesprächen, die ich mit Angehörigen, Betreuern, qualifizierten Demenz-Helfern und Altenpflegern geführt habe, weiß ich: Es ist für beide Seiten wichtig, so lange es geht im Gespräch zu bleiben – nicht nur wegen organisatorischer und lebenspraktischer Fragen, sondern auch, um Worte zu finden für diesen emotionalen Ausnahmezustand. Denn beide Seiten haben mit der Diagnose „Demenz“ und deren Folgen schwer zu kämpfen:
Der Erkrankte, der bei anfänglich vollem Bewusstsein sein Gedächtnis und dadurch sich selbst verliert.
Das nahe Umfeld, das diesen Prozess miterlebt. Es muss Stück für Stück Abschied nehmen von einem geliebten Menschen und trägt gleichzeitig immer mehr Verantwortung.
Ein wichtiger Baustein einer funktionierenden Betreuung ist zu Beginn PSYCHOEDUKATION, also die Aufklärung der Bezugspersonen über Ursachen, Symptome und Verlauf der Erkrankung. Umso mehr die Angehörigen zu Demenz-Experten werden, umso leichter fällt es ihnen, einerseits Verständnis zu haben für das Verhalten und die Bedürfnisse des Erkrankten und andererseits zu wissen, welche Art von Unterstützung in welchem Stadium der Erkrankung nötig und richtig ist. Neben Beratungsstellen kann hier auch der Austausch mit anderen Angehörigen wertvolle Informationen und Perspektiven bringen.
Im weiteren Verlauf der Erkrankung zunehmend wichtiger wird die SELBSTFÜRSORGE. Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die sich Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche um einen dementen Angehörigen kümmern, und das seit vielen Jahren. Das geht an die Substanz und lässt auch das eigene Leben wie einen kaputten Luftballon zusammen schnurren. Auch hier gilt: Wissen ist Macht. Wer Angebote wie Demenzcafé, Demenz-Helfer oder Kurzzeitpflege nicht kennt, kann sie nicht in Anspruch nehmen. Wer sich kein eigenes Bild von den örtlichen Pflegeheimen und Pflegediensten macht, wird sich so lange es geht scheuen, sich für eine der Möglichkeiten zu entscheiden.
Dabei ist es unwahrscheinlich wichtig, kleine und größere Freiräume zu schaffen für Regeneration und all die Dinge, die trotz der Pflege eines erkrankten Angehörigen Freude machen. Sicher, Demenz ist Teil des eigenen Lebens geworden und bestimmt in Teilen dessen Verlauf. Aber: Demenz ist eben nur ein Teil. Daneben soll und darf es noch ganz viel anderes geben. Wie das gelingen kann und was du dir für dein Leben wünschst, können wir gerne in einem intensiven Gespräch herausfinden.
Zum Abschluss möchte ich gerne noch eine Erinnerung teilen.
Unvergessen ist für mich mein Besuch in einem Demenz-Café. Die Betreuerinnen und Betreuer servierten Kaffee und Kuchen, bastelten Fensterbilder. Das Gespräch über Gott und die Welt verlief friedlich, aber schleppend. Die Gäste saßen teilnahmslos da, starrten in die Ferne, ließen die Stunde Fremdbetreuung, in der die Angehörigen Einkäufe erledigten oder einen Spaziergang machten, über sich ergehen.
Aber dann zeigte die Uhr Schlag 4. Auf dem Tisch wurde Platz gemacht für die Liederbücher. Leise öffneten sich Türen im hinteren Bereich des Raums, die Angehörigen traten ein, sehr darauf bedacht, diesen Moment nicht zu zerstören. Eine Betreuerin stimmte „Kein schöner Land“ an, und mit den Tönen kam Bewegung in den Raum. Textsicher stimmten die Frauen und Männer, die teilweise schon Jahre kaum mehr ein Wort gesprochen hatten, in die Melodie mit ein. In vielen Augen füllte sich die Leere mit Erinnerungen an ein bewegtes Leben, an Momente aus längst vergangenen Zeiten. Wir sangen ein zweites, ein drittes und ein viertes Lied und schließlich kamen die Angehörigen an den Tisch, um die Gäste abzuholen.
Als ich eine Frau bat mir den Nutzen des Demenz-Café für sie als Angehörige zu beschreiben, kamen ihr die Tränen: „Ich betreue meine Mutter seit vielen Jahren, sie ist nur noch eine menschliche Hülle, es ist sehr anstrengend und traurig und manchmal denke ich, ich kann nicht mehr. Aber sie hier sitzen zu sehen, und wenn auch nur für ein paar Minuten, singend und glücklich, dafür lohnt sich jede Anstrengung. Denn in solchen Momenten weiß ich, dass sie noch nicht tot ist, auch wenn sich das oft so anfühlt.”