PROBLEM-KIND!?
Was stimmt eigentlich nicht mit diesem Kind?
Ich vermute, es gibt kaum ein Elternteil, das diesen Gedanken nicht schon einmal hatte. Und dass dieser Gedanke in einer Situation aufgeblitzt ist, in der die Stimmung ohnehin schon ungut war: Unzufriedenheit, Müdigkeit, Frust, enttäuschte Erwartungen,Verärgerung, Vorwürfe, Hilflosigkeit, seelische Überlastung, Erschöpfung nach einer Sportverletzung oder einer hartnäckigen Erkältung, vielleicht auch der unmittelbare Vergleich mit anderen Kindern oder die vorwurfsvollen Blicke anderer Menschen. Ich meine damit nicht die ungute Stimmung des Kindes, sondern die Verfassung des Vaters oder der Mutter in diesem Moment.
Mir fallen einige Situationen aus den vergangenen Jahren ein, in denen ich als Mutter nicht in bester Verfassung war:
- Eines meiner Kinder war die Unruhe in Person. Der kleine Kerl fand abends nicht in den Schlaf, schlief keine Nacht durch und brauchte tagsüber ununterbrochen Beschäftigung und körperliche Nähe. Bekam er das nicht, schrie er sich die Seele aus dem Leib. Heute weiß ich, dass dies alles Symptome einer sogenannten Tic-Störung waren und dass sie typisch verlaufen ist: ein letztes Hoch mit Beginn der Pubertät, vollständiges Abklingen um das 14. Lebensjahr herum. Aber wie oft quälten mich damals in ruhelosen Nächten Verzweiflung und Erschöpfung und ich dachte mit mal mehr, mal weniger Wut im Bauch: Was stimmt eigentlich nicht mit diesem Kind?
- Ich konnte lesen, bevor ich in die Schule kam. Ob Diktat, Aufsatz, Erörterung oder Gedichtinterpretation, Deutsch fiel mir leicht. Also wählte ich einen Beruf, bei dem mir diese Fähigkeit nützte und wurde Redakteurin. Dass meine beiden Söhne miserabel sind in Rechtschreibung, bringt mich auch heute noch an meine Grenzen. Zum Beispiel, wenn mal wieder eine WhatsApp dieser Art kommt: Mama, wiehr sind gleich da… W-I-E-H-R!?! Und schon blitzt er wieder auf, dieser Gedanke, gepaart mit Unverständnis und der Sorge, dass ihnen diese Schwäche für immer bleiben wird: Was stimmt eigentlich nicht mit diesen Kindern?
Meine Reaktionen sind wie aus dem Lehrbuch. Das Kind ist nicht / macht nicht das, was der Norm oder den Erwartungen entspricht. Das Elternteil kommt aus verschiedensten Gründen damit nicht klar. Schlussfolgerung: Mit dem Kind stimmt etwas nicht. Geht es um eine Entwicklungsverzögerung, eine Auffälligkeit im schulischen oder sozialen Bereich und so weiter, ist das faktisch natürlich richtig.
Mir ist über die Jahre nur bewusst geworden: Dass es ein „Problem“ gibt, ist oft gar nicht das Problem. Das Problem entsteht durch die Haltung, das Verhalten, die Erwartung, die physische oder seelische Verfassung, die Reaktion, Lebensweise, Verletzlichkeit, Glaubenssätze der Eltern.
Neulich berichtete mir eine Mutter, dass ihr Sohn sie mehrfach körperlich bedroht hätte und sie nun Angst habe, dass er irgendwann wirklich mal zuschlage. Sie überlege, ihn in ein Heim zu geben, sie komme nicht mehr mit ihm klar. Ich fragte nach: Wie hat sich eure Beziehung über die Jahre entwickelt? Wie kommt es, dass er im Streit diese Grenze überschreitet – und dass du das zulässt? Sie berichtete, dass sie in den vergangenen Jahren beruflich wie privat viele Probleme gehabt hatte. Sie sei überlastet gewesen, oft gereizt, und habe wenig für Zeit den Sohn und seine Bedürfnisse gehabt. Wenn der ihr dann auch noch zusätzlich Probleme gemacht habe, sei ihr schon öfter mal die Hand ausgerutscht. Inzwischen sei er aber zwei Köpfe größer und einige Kilo schwerer als sie…
Die Parallelen im Verhalten sind offensichtlich. Und dass es zwischen Eltern und Kindern nie um die Frage der Schuld gehen sollte, versteht sich eigentlich auch von selbst. Aber gerade hier liegt meiner Erfahrung nach das eigentlich Problem:
Weil es oft einfacher ist, das Kind zu verändern anstatt sich selbst zu verändern oder weil es viel leichter fällt, das Kind als Problem zu sehen anstatt zu überlegen, welchen Anteil man selbst an der Situation hat, stellt sich schnell die Frage: Was stimmt eigentlich nicht mit diesem Kind?
Wer sich wieder mehr Miteinander statt Gegeneinander wünscht, braucht neben der Fähigkeit, andere Fragen zu stellen, zuallererst eine Entscheidung: nämlich die, es künftig besser machen zu wollen.
Dein Leben, dein Weg. Wie entscheidest du dich?